Sebald




Zwei Ereignisse in den frühen 1980er Jahren dürften dazu beigetragen haben, dass W. G. Sebald - zu jener Zeit Dozent für Literaturwissenschaft an der University of East Anglia in Norwich - zu der einzigartigen literarischen Form findet, die ihn als Schriftsteller fortan auszeichnen sollte. Während eines Besuchs bei seinen Eltern in Sonthofen im Allgäu fällt ihm ein Foto-Album in die Hände, das sein Vater - damals Wehrmachtssoldat im so genannten Polen-Feldzug - 1939 zur ersten Kriegsweihnacht als Geschenk für die Mutter angelegt hat.

Die Fotos - säuberlich eingeklebt und beschriftet - zeigen verschiedene Kriegsszenen, darunter ganze Dörfer, die bis auf die Grundmauern zerstört sind und deren Kamine noch rauchen; zu sehen ist ferner, hinter Stacheldraht, eine junge Zigeunerin, die lächelnd ihr Kind an sich drückt.

Dieses Album erweist sich nicht nur deshalb als beunruhigend, weil dadurch Sebald mit der militärische Vergangenheit seines Vaters seines Vaters konfrontiert wird, was ihn zwingt, sich mit der Frage nach dessen Aktivitäten im Krieg auseinander zu setzen («Ich weiß immer noch nicht genau, was er getan hat und was nicht»); die Bilder demonstrieren überdies die schwindelerregende Kluft zwischen Sebalds privaten Familien-Erinnerungen und der deutschen Vernichtungsgeschichte.

Ungefähr zur gleichen Zeit, Anfang Januar 1984, erhält Sebald einen Telefonanruf seiner Mutter. Sie teilt mit, dass sein geliebter Volksschullehrer Selbstmord begangen habe: Der Mann hat sich ganz in der Nähe von Sonthofen vor einem herankommenden Zug auf die Schienen gelegt. Der Lehrer hieß Armin Müller - in seinem Erzählungsband «Die Ausgewanderten» gibt ihm Sebald acht Jahre später den fiktiven Namen «Paul Bereyter».

Wie Sebalds Recherchen ergeben, hat Armin Müller jüdische Vorfahren. Deshalb ist ihm während der NS-Zeit untersagt, deutsche Kinder zu unterrichten. Diese Entdeckung lässt in Sebald den alten Groll gegen seine Eltern sowie gegen die anderen Sonthofener wieder aufleben, die seinerzeit von den Schikanen gegen den Lehrer Müller gewusst, dies den Kindern aber verschwiegen hatten. Dieses Vertuschungsmanöver erschien ihm als typische Reaktion der Adenauer-Zeit auf den Nationalsozialismus - auch in seiner eigenen Familie.

Leiden am Vater: Stendhal, Kafka, Sebald





Diese beiden Ereignisse bilden eine Art Kristallisationspunkt für Sebalds erste literarische Prosatexte, für «Schwindel. Gefühle» (1990) und «Die Ausgewanderten» (1992). In «Schwindel. Gefühle» definiert sich Sebald als einen Schriftsteller in offenem Konflikt mit seinem Vater. Das Buch beginnt mit zwei biografischen Vignetten zu Stendhal und zu Kafka – beides Autoren, die für ihr schwieriges Verhältnis zum Vater berühmt sind. In diese Kapitel ist die Geschichte von Sebalds Rückkehr in sein Herkunftsdorf «W.» (Wertach) hineinverwoben, unter dem von Monteverdi geborgten Titel «Il Ritorno in Patria», der an Odysseus erinnert, der nach Jahrzehnten der Wanderung ins Land seiner Väter heimkehrt. Und wie ein anderer prototypischer Wanderer, «K.» in Kafkas «Schloss»-Roman, steht Sebalds Ich-Erzähler auf der Brücke «kurz vor den ersten Häusern» des Dorfes und schaut «in die nun alles umgebende Finsternis hinein».

Er erinnert sich an das «Zigeunerlager», das in den Nachkriegsjahren während der Sommermonate neben der Brücke existiert. Jedes Mal, wenn sie auf dem Weg zum Schwimmbad an dem Lager vorbeimussten, nahm ihn die Mutter auf den Arm, während die Zigeuner von ihrer Arbeit nur kurz aufschauten und dann den Blick wieder senkten, «als grauste es ihnen».



Der Schlüssel zu diesen vorwurfsvollen, Schuldgefühle hervorrufenden Blicken folgt wenige Sätze später, wenn der Erzähler auf das Familienalbum zu sprechen kommt und das Foto von der Zigeunermutter mit Kind beschreibt, das sein Vater als Weihnachtsgeschenk vom Polen-Feldzug mitgebracht hat. Die Schuld des Vaters als Soldat der Wehrmacht geht solcherart auf den Sohn über. Die Taten des Vaters im Krieg werden im Folgenden vom Erzähler weder kommentiert noch kritisiert; aber deutlich wird, dass das Zerwürfnis zwischen den Generationen schon lange bestehen muss: «Gut dreißig Jahre war ich nicht mehr in W. gewesen.»

Generationen-Tribunal im Hause Sebald

Dieses Familien-Idyll wird im Januar 1947 jäh unterbrochen, als Sebalds Vater aus einem französischen Kriegsgefangenenlager zurückkehrt. Es ist ein Fremder, der da in Kempten im Allgäu aus dem Zug steigt. Er wiegt nur noch 47 Kilo und spricht Deutsch mit ungewohntem Akzent. Vom ersten Augenblick an weist ihn sein Sohn brüsk zurück. Noch jahrelang soll der Junge seinen Großvater als seinen eigentlichen Vater betrachten. «Es war nicht mein Vater, der mich erzogen hat», sagt Sebald im Jahre 2001 zu einem englischen Journalisten. «Mein Vater kehrte erst 1947/48 aus dem Krieg zurück; in der Nachbarstadt fand er Arbeit; in den darauffolgenden drei Jahren kam er nur an den Wochenenden nach Hause. Ich habe also die ersten fünf, sechs Lebensjahre unter der Obhut meines Großvaters verbracht, der 1872 im ‹tiefen Süden› geboren wurde.»

Wie viele Deutsche seiner Generation gerät auch Sebald Mitte der sechziger Jahre unter den Einfluss der Studenten-Unruhen und streitet vehement mit seinen Eltern. Er wirft ihnen vor, Hitler passiv unterstützt und sich in den fünfziger Jahren, als der Sohn heranwächst, an der «Verschwörung des Schweigens» beteiligt zu haben. Und wie bei vielen deutschen Familien sind auch bei den Sebalds die Ursachen des Zerwürfnisses viel früher zu suchen: im Trauma vom spätheimkehrenden Vater. Diese Spätheimkehrer kommen als Fremde aus Krieg und Kriegsgefangenschaft zurück – sie sind unwillkommen und nicht geheuer, finden sich im Zivilleben oft schlecht zurecht.

In den meisten Fällen ließ sich die Entfremdung rasch überwinden. Sebald hingegen kommt über dieses Dilemma der zwei Väter nie hinweg. Das Erste, was er 1966 als Student in England tut: er legt seine Taufnamen ab – den allzu teutonischen «Winfried» und den «Georg», den er mit seinem Vater gemein hat. Stattdessen nennt er sich «Max», zum großen Missfallen seiner Eltern. Seine dreißigjährige Emigration und seine akademische Karriere in England waren großteils der Ablehnung der kulturlosen Provinzherkunft seines Vaters geschuldet. Dieses Milieu war in den Augen des Sohnes schuld an der Unfähigkeit des Vaters, der NS-Ideologie zu widerstehen. Am deutlichsten aber spiegelt sich Sebalds Dilemma in seinem literarischen Werk – dieses geht einerseits aus von einer mehr oder weniger offenen Zurückweisung des Vaters und andererseits von einem verschleierten Gedenkkult für den geliebten Großvater.

Soldat zwischen Wehrmacht und Bundeswehr
Wer aber waren diese beiden Männer?

Man weiß nicht viel über sie, abgesehen von dem, was Sebald selbst in seinen Büchern und Interviews über sie sagt. Einige zusätzliche Fakten sind hilfreich, will man die Rolle verstehen, die die beiden in Werken wie «Schwindel. Gefühle», «Die Ausgewanderten» oder «Austerlitz» (2001) spielen.

Georg Sebald
wird 1911 in Eisenstein geboren, im Bayrischen Wald nahe der tschechischen Grenze, in einer katholischen Unterschichtfamilie. Dessen Vater ist Bahnarbeiter, hat im Ersten Weltkrieg gekämpft und engagiert sich in der Gewerkschaftspolitik. Der junge Sebald lernt die Schlosserei. Weil er aber gegen Ende der Weimarer Republik keine Arbeit findet, wird er Berufssoldat und tritt wenige Jahre vor Hitlers Machtergreifung in das so genannte «Hunderttausendmannheer» ein, das Deutschland gemäß dem Versailler Vertrag gestattet war. Als Wehrmachtsoffizier steigt er bis zum Rang eines Hauptmanns auf.
Während eines Skilagers mit seiner Kompanie trifft er in Wertach Rosi Egelhofer. Dort heiraten die beiden auch im November 1936. Im Sommer 1939 wird Georg Sebald für den Polen-Feldzug mobilisiert. Er kämpft in vielen Schlachten in Osteuropa, auch in Stalingrad. Wegen einer Knochenhautentzündung wird er nach Deutschland zurück- und schließlich nach Frankreich umverlegt, wo er bis Kriegsende im Einsatz ist. Als er im April 1945 die Grenze nach Basel zu überschreiten versucht, nimmt man ihn fest und interniert ihn in einem Kriegsgefangenenlager in Haut Plateau de Larzac, wo er bis zum Januar 1947 bleibt.

Laut dem «Fragebogen», den er nach dem Krieg für die Alliierten auszufüllen hat - und sehr im Gegensatz zu dem Eindruck, den die späteren Berichte seines Sohnes erwecken -, ist Georg Sebald kein Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen gewesen. Kurze Zeit arbeitet er in Wertach als Schlosser, ehe es ihm gelingt, im benachbarten Sonthofen, wo er bereits vor dem Krieg stationiert gewesen ist, bei der Polizei unterzukommen. (Sonthofen war übrigens seit dem Ersten Weltkrieg ein bedeutender militärischer Stützpunkt; im Erziehungssystem des «Dritten Reichs» spielte der Ort eine Rolle - als so genannte «Ordensburg», als Eliteschule für den NS-Führungsnachwuchs.) Als Mitte der fünfziger Jahre die Bundeswehr neu entsteht, nimmt Georg Sebald seine militärische Karriere wieder auf und bringt es bis zum Oberstleutnant, ehe er 1971 mit sechzig in den Ruhestand geht. Bis zu seinem Tod im Jahr 1999 führt er mit seiner Frau ein ruhiges Leben in Sonthofen. Er engagiert sich in der Lokalpolitik für die SPD (was für einen Bundeswehr-Offizier in einer bayrischen Kleinstadt alles andere als selbstverständlich war) und verfolgt mit beträchtlichem Stolz die akademische und literarische Karriere seines Sohnes.

Eugen Schaub, ehemaliger Kollege des Vaters, schreibt:
Major (pensioniert als Oberstleutnant) Georg Sebald, Jahrgang 1911, war in derselben Dienststelle beschäftigt wie ich, Jahrgang 1938. Er gehörte zu jener Generation von Offizieren, die traumatisiert von Krieg und Gefangenschaft, von der Bundeswehr besser nicht eingestellt worden wären, aber in der Gründungsphase unver-zichtbar waren. Viele der kriegs-gedienten Offiziere hatten Schwierig-keiten, uns Jüngere mit gleichem Dienstgrad zu akzeptieren. Es wiederholte sich eine Art Vater-Sohnverhältnis im beruflichen Umfeld, besonders beim Major Sebald. Die kritischen Anmerkungen des Sohnes kann ich in jeder Hinsicht nachvollziehen.
Bekanntlich konnte sich Sebald mit seinem 1. Vornamen Winfried als Erwachsener nicht identifizieren, er benutzte deshalb die Abkürzungen "W. G." und ließ sich privat Max nennen. Doch weil Sterben in Deutschland ein amtlicher Vorgang ist, galt hier die Geburtsurkunde. In England war man großzügiger, auf seinem Grabstein steht "Max Sebald". Der Name auf dem Grabstein der Eltern in Sonthofen ist missverständlich, entsteht doch der Eindruck, Sebald sei hier begraben.
Sebalds Todesanzeige enthält einen merkwürdigen Schreibfehler. Statt Fuchs steht hier "Fudes".

Der Großvater als Lehrer

W. G. Sebalds Großvater

Josef Egelhofer
wird 1872 in Roth an der Roth nahe Tübingen geboren, in einer Kleinbauernfamilie, wächst in Memmingen auf, ein Stück nördlich von Wertach. Er besucht nur die Volksschule; danach macht er eine Schmiedelehre. Aber kurz nach der Jahrhundertwende findet er Arbeit als Dorfgendarm in Wertach und bleibt auf diesem Posten bis zu seiner Pensionierung. 1905 heiratet er Theresia Harzenetter. Das Paar hat vier Kinder, die alle in Wertach zur Welt kommen, einschließlich Rosi, der Jüngsten, der späteren Mutter W. G. Sebalds. Die wirtschaftliche Not der zwanziger Jahre zwingt drei der vier Kinder zu emigrieren. (Rosi wäre ihren Geschwistern gerne in die Vereinigten Staaten gefolgt, musste aber als letztes Kind bei den Eltern bleiben.)

Josef Egelhofer hat zwar lange Dienstzeiten, aber die Arbeit ist relativ einfach. Er patrouilliert zu Fuß durch sein Revier und prüft die Papiere der zahlreichen Landstreicher, die durchs Dorf kommen. An Samstagabenden bezieht er Posten im Dorfwirtshaus, um die betrunkenen Bauern von ihren Schlägereien abzuhalten.

Trotz seiner eingeschränkten formalen Schulbildung war Egelhofer ein neugieriger und humorvoller Typ; besonders interessiert er sich für die Welt der Natur. Er führt einen Bauern-Almanach, in dem er den Wechsel der Jahreszeiten und die Mondphasen festhält, aber auch Geburtstage und andere wichtige Ereignisse in der Gemeinde. Mit seinem langen Uniformmantel und seinem großen Schnauzbart war er eine ansehnliche Gestalt, und gemeinsam mit dem Bürgermeister, dem Pfarrer und dem Lehrer gehört er zur Dorf-Prominenz: Man kannte und grüßte ihn.



Auch nach der Pensionierung hält er seine Gewohnheit aufrecht, jeden Tag drei, vier Stunden lang durch die Gegend zu wandern; im Dorfwirtshaus kehrt er für ein Bier oder ein Kartenspiel ein; zum Abendbrot ist er wieder daheim. Seine Enkelin, W. G. Sebalds ältere Schwester, erinnert sich an ihn als einen milden Mann und begabten Pädagogen; er bringt ihrem Bruder die Namen von Pflanzen und Blumen bei, macht ihn mit den unterschiedlichsten Dorfbewohnern bekannt und lehrt ihn die Wettervorhersage aus der Beobachtung atmosphärischer Veränderungen. Gemeinsam sammeln Großvater und Enkel Heilkräuter, die er sorgfältig beschriftet in kleinen Gläsern in der Küche aufbewahrt. Der Großvater bringt dem kleinen Sebald auch das Lesen bei, indem er dieselben Geschichten so oft wiederholt, bis der Enkel sie in- und auswendig kann.

Ein Herzfehler als Familien-Erbteil

Georg Sebald und Josef Egelhofer sind ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, auch in ihrer physischen Erscheinung. W. G. Sebalds Vater war stämmig und untersetzt und hatte ein rundes Gesicht. Der Großvater war groß gewachsen und knochig. Bedeutsamer noch war die Art und Weise, wie Sebald, als er älter wird, die Unterschiede zwischen beiden verfeinert und zuspitzt. Ähnlich wie Franz Kafka zwischen den koscheren Fleischern und aggressiven Händlern auf der Vaterseite und den Rabbinern und Landärzten mütterlicherseits unterscheidet, zieht auch Sebald eine scharfe Grenze zwischen der soldatischen Linie väterlicherseits und der friedfertigen Familientradition mit ihren Emigranten auf der Egelhofer-Seite.
Sebalds Großvater väterlicherseits hat im Ersten Weltkrieg gekämpft. Egelhofer hingegen hat nie als Soldat gedient: Wegen eines Koronar-Defekts war er vom Kriegsdienst freigestellt. Sebald hat diesen Herzfehler geerbt und war deshalb in den sechziger Jahren vom Wehrdienst befreit. Vermutlich ist auch ein Herzinfarkt, den Sebald während einer Autofahrt in Norfolk erleidet, die Ursache für den tödlichen Verkehrsunfall im Dezember 2001.

Vertreibungsgeschichte der Moderne

Als er bereits einige Jahre in England gelebt hat, beginnt sich Sebald mit den Zusammenhängen zwischen seiner eigenen Emigration und der Egelhofer’schen Familientradition der Auswanderung in die USA zu beschäftigen. Durch die militärische Karriere seines Vaters ist er ja einerseits der deutschen Aggression als seinem Erbteil verhaftet; nun beginnt er sich andererseits über die mütterliche Linie an die vertriebenen Opfer der Geschichte imaginativ anzuschließen. In der «Ambros Adelwarth»-Erzählung in «Die Ausgewanderten» macht er beispielsweise aus seinem (fiktiven) Großonkel den Butler und lebenslangen Gefährten eines reichen amerikanischen Juden, der in geistiger Umnachtung stirbt, heimgesucht von grässlichen Visionen von den Schlächtereien des Ersten Weltkriegs, die ihrerseits wiederum an die Nazi-Gräuel erinnern.

Gerade diese Verbindung hat Sebalds deutsche Leser oft verstört. Der Autor wurde beschuldigt, er maße sich an, sich mit den jüdischen NS-Opfern zu identifizieren - so, als gehöre er selbst zu den ins Exil Getriebenen. Der Einwand trifft nicht zu, denn Sebald hat den Unterschied zwischen den Verfolgungen und Exilierungen während der Nazi-Zeit und seiner eigenen freiwilligen Emigration in der Nachkriegszeit nie aus den Augen verloren. Sein ganzes Werk ist vielmehr diesem historischen Unterschied gewidmet - es zollt der Erinnerung daran beredt Tribut.

Zugleich freilich sucht Sebald für sich selbst nach Anknüpfungspunkten und Kontinuitäten. Seinem Prosaband über vier alternde Männer im «Exil» gibt er bewusst den so vieldeutigen wie antiquierten Titel «Die Ausgewanderten», denn darin liässt sich auch die Emigrationsgeschichte seiner eigenen Familie mit unterbringen. Die Judenvertreibungen im «Dritten Reich» sind nur ein, wiewohl der zentrale Teil im breiten Spektrum der modernen Vertreibungsgeschichte. Diese reicht zurück bis zur Französischen Revolution (mit einer deutlichen Anspielung auf Goethes «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten») und umfasst auch die Emigration jüdischer und deutscher Wirtschaftsflüchtlinge aus Mitteleuropa im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Sebalds semi-autobiografisches literarisches Œuvre ruht demnach auf den Fundamenten einer doppelten Identität: Als Sohn eines Wehrmachtsoffiziers legt Sebald Zeugnis ab für die Opfer deutscher Gewaltherrschaft; aber als Angehöriger der nicht-militärischen Emigrantenfamilie seines Großvaters kann er sich mit diesen Opfern existenziell identifizieren.

Ein Moment der Erleuchtung in Breendonk

Auch wenn man Sebalds Werk als semi-autobiografisch charakterisiert, gibt es doch zahlreiche Beispiele dafür, wie er «autobiografische» Details strategisch einsetzt, um, vor allem in der Konfliktgeschichte mit seinem Vater, diesem gegenüber polemisch und politisch zu punkten. Ein Beispiel aus «Austerlitz», seinem letzten Buch, macht dies anschaulich.

Im Sommer 1967 besucht der Ich-Erzähler die Festung Breendonk in Flandern, in der die SS während des Krieges Mitglieder des belgischen Widerstands folterte. Dem Erzähler schießen schreckliche Szenen aus der Vergangenheit durch den Kopf. Zum ersten Mal erkennt er, dass er einen persönlichen Bezug zu diesen historischen Gräueltaten hat, haben diese doch begangen «Familienväter und gute Söhnen aus Vilsbiburg und aus Fuhlsbüttel, aus dem Schwarzwald und aus dem Münsterland, wie sie hier nach getanem Dienst beim Kartenspiel beieinander saßen oder Briefe schrieben an ihre Lieben daheim, denn unter ihnen hatte ich ja gelebt bis in mein zwanzigstes Jahr».

Als er tiefer in die Kasematten der Festung Breendonk eindringt, erlebt der Erzähler einen Proust’schen Augenblick von «wiedergefundener Zeit», allerdings in besonderer deutscher Verkleidung. Plötzlich steigt in ihm – «aus der Untiefe» – eine verschüttete Kindheitserinnerung aus «W.» auf: das Bild des Dorf-Metzgers in seinem Gummischurz, «wie er die Kacheln abspritzte mit einem dicken Schlauch»: «Genau kann niemand erklären, was in uns geschieht, wenn die Türe aufgerissen wird, hinter der die Schrecken der Kindheit verborgen sind.»

Die Erinnerung an den Dorf-Metzger – der sehr wohl einer von jenen «guten Söhnen und Familienvätern» gewesen sein könnte, die an Orten wie Breendonk in der SS dienten – führt den Erzähler direkt zur Erinnerung an seinen eigenen Vater: «Aber ich weiß noch, daß mir damals ein ekelhafter Schmierseifengeruch in die Nase stieg, daß dieser Geruch sich, an einer irren Stelle in meinem Kopf, mit dem mir immer zuwider gewesenen und vom Vater mit Vorliebe gebrauchten Wort ‹Wurzelbürste› verband.»

Robert Walser als Spiegelung des Großvaters

In der Figur des «bösen» soldatischen Vaters verschmelzen die häuslichen Kindheitserinnerungen des Autors mit den schlimmsten Verbrechen der deutschen Geschichte; in direktem Gegensatz dazu steht die sanfte und friedfertige Gestalt von Sebalds Großvater. Wir sehen ihn beispielsweise, wie er sich im Kapitel «Il Ritorno in Patria» des Enkels annimmt und ihn in feuchte Tücher wickelt, als dieser von einem lebensbedrohenden Fieber befallen wird.

In «Logis in einem Landhaus», Sebalds letztem und sehr persönlichem Essayband, lässt sich seine Neigung, das Leben in Literatur kippen zu lassen, gut studieren. Der Autor beschreibt darin seinen Großvater als eine Art literarischen «Wegweiser», als jenen Menschen, der ihm in Sprache und Empfindsamkeit die Türe zu den Regionalschriftstellern des 19. Jahrhunderts aus dem «tiefen Süden» öffnete – zu Johann Peter Hebel, Gottfried Keller und Adalbert Stifter. Und in seinem Essay über Robert Walser, den promeneur solitaire, meditiert er eingehend über die Ähnlichkeiten zwischen seinem Großvater und dem Schweizer Erzähler, was Aussehen, Kleidung und Alltagsgewohnheiten angeht. Beide sind im Jahr 1956 gestorben – Egelhofer nach einem letzten April-Schneefall, Walser während eines Abendspaziergangs am 25. Dezember. «Vielleicht sehe ich darum den Großvater heute, wenn ich zurückdenke an seinen von mir nie verwundenen Tod, immer auf dem Hörnerschlitten liegen, auf dem man den Leichnam Walsers, nachdem er im Schnee gefunden und fotografiert worden war, zurückführte in die Anstalt.»

Womöglich noch aussagekräftiger als diese ausdrücklichen Huldigungen sind die indirekten Erzählmethoden, die Sebald anwendet, um die Beziehung zu seinem Großvater in sein Werk eingehen zu lassen. Überall findet man Fragmente und Bruchstücke aus Egelhofers Biografie. So leidet beispielsweise der Lehrer Paul Bereyter in «Die Ausgewanderten» als alter Mann an einem Herzfehler.

Einen eindrucksvollen, wiewohl geschickt camouflierten Auftritt hat der Großvater in «Dr. Henry Selwyn», der Eingangserzählung der «Ausgewanderten». Darin beschreibt der Protagonist, wie er sich einst als junger Medizinstudent plötzlich stark, aber nicht erotisch zu einem älteren Schweizer Bergführer namens Johannes Naegeli hingezogen gefühlt habe. Überallhin sei er mit Naegeli gewandert, berichtet Selwyn dem Erzähler, «und er habe sich nie in seinem Leben, weder zuvor noch später, derart wohl gefühlt wie damals in der Gesellschaft dieses Mannes». Auch Selwyn hat zwei Väter – sein leiblicher Vater ist ein litauischer Jude, sein «adoptierter» Vater eben jener Schweizer Bergführer. Naegelis Todessturz in eine Gletscherspalte treibt Selwyn in eine tiefe Depression.

Es fiele schwer, in diesem Portrait des alten Bergführers nicht eine Hommage zum Gedenken an Sebalds eigenen ersten Wandergefährten und Naturführer zu erkennen, an Josef Egelhofer. Man wird sogar behaupten können, dass Sebald seine Beziehung zu seinem Großvater in die narrative Struktur von «Austerlitz» und «Die Ausgewanderten» selbst eingeschrieben hat. In beiden Prosabüchern schließt sich ein junger Erzähler an einen älteren, erfahrenen Mann an, dessen Lebensgeschichte eine besondere Bedeutung für ihn hat. Dr. Henry Selwyn, Paul Bereyter, der Maler Max Aurach, Jacques Austerlitz – in all diesen literarischen Figuren finden wir das gleiche zurückhaltende, lebenskluge, sanftmütige und ein wenig altmodische Wesen, das Sebald an seinem Großvater liebte.

nach Mark M. Anderson







Mark M. Anderson: Professor für Deutsche Literatur an der Columbia University in New York City
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Redaktion Kultiversum