... mir beim Wiederlesen von Maxens Briefen
seine Neigung zum Rollenspiel bewusst wurde
Ein etwas unscharfer Schnappschuss von 1977 dagegen,
aufgenommen während eines Besuches in seinem Haus bei Norwich,
zeigt ihn brütend mit aufgestütztem Kopf in der seit Dürer
klassischen Haltung der Melancholie.
Schreiberrollen
Ich lernte ihn 1966 kennen, als wir beide im German Department der Universität Manchester die Tätigkeit als Lektoren aufnahmen. Zwar hat ihm das preußische Milieu, dem ich – sechs Jahre älter als er – entstammte, nie sehr behagt (wie man seiner Magisterarbeit über Sternheim und seiner Doktorarbeit über Döblin ablesen kann), doch verstanden wir uns von Anfang an so gut, dass wir im Januar 1967 zusammenzogen und bis zum Juli Zimmer an Zimmer in dem Vorort Didsbury wohnten.
So schreibt Reinbert Tabbert, Anglist und Hochschullehrer, über seinen Freund.
Nennen ließ er sich «Max», Kurzform eines seiner drei Vornamen. Von den Initialen «W. G.», unter denen er dann publizierte, vermute ich, dass er sie in Goldlettern an seiner Bürotür in Manchester vorfand - so wie ich meine Initialen «R.O.P», die Max in der schriftlichen Anrede an mich bevorzugte.
Seine veröffentlichten literarischen Arbeiten erweisen ihn unverkennbar als Melancholiker. Der Sprachwitz und das komische Rollenspiel aber, die spätestens seit Hamlet gleichfalls zum Bild des Melancholikers gehören, treten auffällig nur in den Briefen hervor. Wer mit Sebald vertraut war, wird überdies seinen Witz im persönlichen Umgang bezeugen können. Quietly amusing, bitingly ironic nennt ihn seine englische Übersetzerin Anthea Bell, und Jo Catling, seine Germanistik-Kollegin in Norwich, erinnert sich an Sebalds highly developed sense of the absurd.
Im Sommer 1968 zog Max Sebald in die Schweiz. Er nahm einen Posten als Lehrer an einer Privatschule in Sankt Gallen an. Er meldet, dass er den angekündigten Theatermonolog aus den Lügen-Erzählungen des k. u. k.-Veteranen Friedrich Schiel, den er während der Ferien in Jugoslawien kennen gelernt hatte, vollendet hat:
Der Einakter-Monolog des verlogensten aller Österreicher ist fertig. Ich habe ihn an Qualtinger geschickt; aber wies so geht, steht die längst fällige Antwort noch aus.
Noch als Lektor in Manchester hatte Max die Theatergruppe des German Department geleitet und mit dieser so erfolgreich "Leonce und Lena!" inszeniert, dass er am 12. März 1968 schreiben konnte: Von allen Seiten werfen sie mir jetzt Freundlichkeiten und ähnliche Schweinereien an den Kopf. Wie mir zu Ohren kommt, ist gar ein Betreiben in Gang, mir einen Sessl als Ass-Lee im Drama-Department zu verschaffen.
Als ihm 1970 vom Drama Department der walisischen Universität Bangor eine Stelle angeboten wird, lehnt er sie ab. They wanted me to deal with 19th and 20th Century German and French drama via English translations exclusively. Besides providing a rather dubious basis for discussion this would have completely exiled me.
Als er wenig später die Tätigkeit als Germanistik-Dozent in Norwich aufnimmt, tritt die Beschäftigung mit dem Theater allmählich in den Hintergrund.
Als mir beim Wiederlesen von Maxens Briefen seine Neigung zum Rollenspiel bewusst wurde, erinnerte ich mich an Fotografien, für die er an einem Frühlingstag 1967 in meinem Zimmer in Didsbury posiert hatte. Vor dem zugenagelten Kamin setzte er sich in Positur, doch der Sesselkorb wurde im Handumdrehen zum Requisit weiterer Selbstdarstellungen, in die er nun Witz investierte.
Am 8. Mai 1968, dem Tag, an dem in Paris die erste der großen Demonstrationen von Studenten und Arbeitern stattfand, schrieb mir Max einen Brief, in dem er auf meine Mitteilung reagierte, dass meine eingereichte Doktorarbeit über Harold Pinter wegen der Verwendung des Entfremdungsbegriffs auf Vorbehalte gestoßen war:
Ja, wo soll man da anfangen? Vielleicht mit einer Razzia auf Literaturhistoriker, wie sie K. K. voller Blutdurst geplant hat? Mit einer Maulschelle für den Liberalismus? Der für seine windschiefen liberalen Inhalte keine andere Sprache & keine anderen Argumente findet als die fauligen Eier, die er in der Hoffnung bebrütet, es könnten daraus doch noch einmal Vögel kommen, denen beim Fliegen nicht schlecht wird. Ich sehe dich sitzen und ich sähe mich sitzen, in einer
derartigen Situation & ich warte mit Interesse auf den Augenblick, wo es irgendeiner dieser akademischen adhoc-Büttel so weit treibt, dass mir die Sicherung durchbrennt & ich den anachronistischen Beruf des Satirikers ergreifen muss. Ein einseitiges aber vielleicht unterhaltsames Geschäft. Ich würde mich zunächst an einigen Universitäten einschreiben & mich nach Doktorvätern umtun; sodann ging ich daran, Dissertationen zu entwerfen, die nur ein Vehikel kennten, Lüge. Im Stil & in der Haltung opportun, würde ich die Behausung des Universitätsgeists von innen her zernagen.
Max Sebald war und blieb Melancholiker, fern jeder politischen Aktion, auch der veröffentlichten Satire. Dass er auch spielerischen Witz hatte, das bleibt in den Erinnerungen derer aufbewahrt, die ihm nahe standen.
Und in seinen persönlichen Briefen.
S’hofen I. VIII. 68
Dear R.O.P.,
Grad bloß einen winzigen Brief. Wir sind eben aus Jugoslawien retourgekommen. Wir haben zwar in einem gottverlassenen Nest gehaust, aber selbst bis dorthin, bis in die schierste Unzugänglichkeit, waren sie gedrungen, die Touristen, und vor allen die Deutschen und mit ihnen die Bildzeitung. Am 15. d. M. ziehen wir nach St. Gallen, und es bleiben bis dorthin noch derart viele Dinge zu erledigen, dass es leider mit einem Besuch in T. vorerst nichts werden kann. Kaum komm ich dazu, ein Buch aufzuschlagen. In Jugoslawien ist es mir aber, trotz widrigster Zwischentöne gelungen den Radetzkymarsch, die Kapuzinergruft und den Benvenuto Cellini zu lesen. – Übrigens habe ich in Pag auf Pag einen kuk Veteranen getroffen, und diesem Friedrich Schiel ist es zu verdanken, dass mich die Reise eher freut als reut. Es war dieser Wiener nämlich der schrecklichste Lügner, der mir in meinem Leben bisher vorgekommen ist. Und er hat Geschichten erzählt, monströs und gedunsen vor phantastischer Unwahrheit. F. Schiel geht auf die achtzig und war unter anderem Weltmeister im Gewichtreissen. Aber ich will Dir mit keinen Details den Mund wässrig machen. Wahrscheinlich will ich versuchen, aus seinen Geschichten einen Einakter zu basteln, der ins Absurde übergeht.
Den M. A. habe ich übrigens, ich weiß nicht, ob ich es schon schrieb, mit distinction, und ich bin es also zufrieden. Je näher übrigens das Datum des 1. Sept. kommt, desto mehr scheint es mir, als hättest Du und Deine weitblickende Signora mit den Prophezeiungen bez. meiner neuen Existenz als Lehrer recht. Irgendwie sausen mir die Hosen; auch habe ich bereits wieder meine alten Schulträume. Es wird übel enden, sag ich mir, es wird übel enden. Da kommt mir gleich die Geschichte in den Sinn von der hässlichen (und bösen) Prinzessin, der sich alle Wörter, die sie sagte, beim Aussprechen in Frösche verwandelten. So wird es mir also gehen. Ich werde lange Ketten von Fröschen meinen Mund verlassen sehen, wenn ich im Begriff zu sprechen bin. Zum äußersten Erstaunen meiner Zuhörer werden sie meinem Mund enthüpfen und darauf nicht etwa verschwinden, sondern herumsitzen, und weitläufig untereinander in ihrer eigenen Sprache Gegenstände verhandeln, die mit denen, die ich im Sinne habe, kaum zu verbinden sein werden. So wird es enden, übel, mit einem quakenden Feld schwabbeligen Grüns.
Vielleicht verstehst du meine Vorsorge. Ich will mich aber nicht wickeln lassen und, sollte die Sache zu schlecht sich anlassen, im nächsten Jahr die Profession wechseln. Ich mag mir auf keine Weise den Garaus machen lassen.
Bleibt mir also bloß noch, Euch ein schönes Sizilien zu wünschen. Als Reiselektüre darf ich vielleicht die Nausikaa empfehlen, wenn ich dadurch nicht zu naseweis bin.
Tanti saluti cordiali
Max x fiancée
7. 4. 70
Dear R.O.P.
Jetzt hat der Osterhas das Weite gesucht und bloß eine Schale Nachgeschmack hinterlassen. Vom Frühling nicht zu reden. Seit Januar druckst er herum. Aber heut sind die Fenster wieder angelaufen, und die Wolken fahren mit einer gottlosen Geste über den Himmel, äs if there were no end to anything. It is difficult to abstain from poetical lamentation. Disappointed by the small flutter of voices spreading rhymes and rhymes over the roads and into the trees and houses. Suffocating the fragments of what a German scholar called unsere kurze und arme Kindheit. No. I am by no means mute, nor am I altogether speechless. But I am beginning to have much to think and little to say. Daß die Bäume nicht in den Boden wachsen, ist schon ein Wunder.
Manchester hat sich verändert, seit Du hier mit Deiner chinesischen Nudelkiste abgereist bist. The bus fare has doubled. The Times costs eight pence. The precinct is growing. Buildings are getting face-lifts. Stations are being closed. Foreign newspapers are sold. Business is thriving. Continental shops open up. Und so weiter. Aber das nächtliche Gemurmel der urbs sacra mancuniensis ist geblieben, und auch das Gefühl, daß etwas Barbarisches passiert im Bezirk der Conurbation. Man hat die ganze Information zur Hand, aber sie verbindet sich nur dann zu einem Muster, wenn man ihre Trostlosigkeit mit der Hoffnungslosigkeit der Phantasie noch unterbietet. It seems unavoidable.
This summer I shall try to find the house of Consul Meyer in Bordeaux, where Hölderlin was Hofmeister for a couple of months. Probably will tell me more about him to look at the facade of this place, than to read the latest news from the intellectual stock-exchange. The Tui-business. Most of its agents can't think further than a London pigeon can fly. So they can't imagine Hölderlin, walking, in midwinter, from Frankfurt to Bordeaux.
But I must stop. It's twelve o'clock. Have a nice spring and Ix-cordially remembered by yours perpetually Max.
Poststempel 4. 10. 1973
Mittwoch oder Donnerstag
Dear ROP
zlichsten Dank fier deine usbekische Post. Fiehleicht solltest du doch zu den Kinderbuchschreibern überlaufen. Ist wenigstens
ein gottgefälliger Beruf. Und Pädagogik auf einem Nivoh wo sichs noch auszahlt. Mir ists beim Lesen ganz seekrank gewordn.
Ein gutes Zeichen.
Von uns nix neies. Aber auch gar nix.
Prag, wo wir auf eine Woche gewesen sind, ist eine staubige Stadt und stinkt stark nach faule Eier. Wahrscheinlich sibirisches
Petroleum, was sie mit Holzgeist und Moldauwasser vermischt in ihren Autos fahrn. Ganz wahnsinnige Modelle. Aus dem Kühler
hauts ab und zu einen verreckten Fisch heraus. Solche werdn dann geschwind von Passanten aufgelesen und zum Restaurant
Moskwa getragen. Dort kommen sie andern Tags als Borschteinlage zu ihrer letzten Verwendung. Es ist also trostlos.
Vor allem, wenn man selber als bunzreplikanischer Tourist dauernd taxiert wird. Im Opernhaus ham sie natürlich verkaufte Braut
gespielt und im Theater blinde Kuh oder sonst einen Schmarrn und die Marionetten, was ich vor allem hab sehn wollen, sind auf
Tournee gewesen, oder vielleicht gar am deutschen Fernsehen. Bücher gibts auch nimmer viel. Bloß Grillparzer, Hebbel und Konsorten.
Und neue Kinderbücher hab ich anständige überhaupts keine aufgetrieben trotz endloser Herumrennerei. So ham mir bloß ein paar
Lithos erstanden und ein paar alte Stiche. Mode des 18 sc. Wahr es also schwehrlich
ein Erfolg. Schöne alte Häuser hats natürlich diversester Art. Aber werden bald alle kaputt sein, wenn’s so weiterbröckelt und in
den renovierten hocken halt die Bonzen hinter irgend einem grausligen Schreibtisch. Im Restaurant gibts bloß Fleisch.
Nicht einmal eine gscheite bemische Melsschpeis. Dauernd Omlette und Sschbinat is auch sehr lang und weilig.
Also iberlegs dirs wenn du mal wieder so ein schöns Bild siehst vom Hradschin und gern hinfahrn mechst. Is alls voller Sachsn.
Am ungeheuersten aber is es am abends wenn das Motorbootwettrennen auf der Moldau fertig ist. Dann kommen die polnischen
Nähmaschinen raus aus dem Versteck und fahrn mit Zickzack-und Hexnstichen übern Himmel. Dazu fahrt die Polzei mit einer
ganz wilden Sirene durch die Stadt und macht die ganze Welt verrückt. Fehlt dann nur noch das Erscheinen des Halleyschen
Kometen, oder des schwarzen Tiers, atramentum mit Namen, so das Horn eines Esels hat und den Schwanz eines Dromedars.
Entre-temps le père se fait de plus en plus vieux, und wartet darauf, aber freilich, daß im zukünftigen Leben Gott den
Frommen aus dem Leviathan ein großes Mahl bereitet.
Jetzt will ich lieber aufhörn. Sonst mach ich noch einen Knopf in die Maschine. Die schlimme Hortografie wirst du schon entschuldigen.
Es ist bloße Nachlässigkeit. Ich mag mir einfach nicht bei jedem Wort denken müssen, wie man es jetzt eigentlich schreibt.
Manchmal gehz ja auch ganz gut. Zum Schluß noch etwas profanes. Hab nämlich noch ein etwas kürzeres Teilstück vom Döblin,
etwa 12 Schreibmaschinenseiten, über Schock und Ästhetik. Wüßtest Du eine germanistische Zeitschrift, die solches eventuell
nehmen könnte?? Wenn nicht, ist es auch wurscht. Nur villeicht fallt dir grad was ein.
Also sollst leben Tabbert und auch die Frau und das Kind, Ursolino, besonders, weil es ja noch länger hat.
Bei uns ist ja schon der halbe Faden abgewickelt. Kein Wunder daß er
durcheinander kommt.
Mit vielen frnzlichen Grüßen,
Yours everest Antonius De Dominis
umgekommen 1624 † † †
Poststempel : Wymondham 14.5.1974
DEAR ROP, BRIGITTE AND SO ON –
DA MUß MAN JA DIREKT GRATULIRN & EIN FEINS LEM WINSCHEN DEM AHNUNGSLOSES KIND.
WAS KANN EIM NICHT ALLS BLIHN!! OBER SI HAT JA EIN KREFTIGEN VATTER: SOLL ER GUT OBACHT GEM. – MEINIGE FRAU & KINDERLACH SIN IN DEITSCHLAND. ICH MUß BEI DI GESCHÄFTE BLEIM: DER HUND IST EIN RUHIGER PARTNER MEINER SOLITUDE. DISDERM, SOLLZ LEM. VORWEG DOS KLEINES & DIE MUTTER. SALUTATIONE.
SAMMI OHNVERZAGT. HOFFAKTOR IN
KANDIDIERTE FRICHTE
In Sebalds Briefen ist die Neigung, in Rollen zu schlüpfen, weiterhin lebendig geblieben, wie sein Brief vom 1. Oktober 1973 mit seiner surrealen Beschreibung eines Besuchs in Prag zeigt. In der wiedergegebenen Gratulations-Postkarte zur Geburt unserer Tochter, mit Poststempel vom 14. Mai 1974, tritt das Rollenspiel noch prägnanter in Erscheinung - in einer Schreiberrolle, die besonders Maxens Beschäftigung mit der jüdischen Kultur verrät. Zur Geburt unseres Sohnes Urs Daniel hatte er am 3. Januar 1972 geschrieben: You could have called the boy Bär in good Jewish tradition:
Rabbi Bär Tabbert, dixit Danielus.
Sebalds Briefe zeigen all dies: die Lust am Rollenspiel, die Ironie, den hoch entwickelten Sinn für das Absurde. Sie belegen, dass zumindest der junge Sebald auch das frei assoziierende Spiel mit Sprache und Bildern liebte, wie es schon die englischen Nonsense-Melancholiker Edward Lear und Lewis Carroll in ihren Briefen betrieben. Gilbert K. Chesterton hat für den Sinn solchen literarischen Unsinns die hübsche Formel gefunden: holidays of the mind, Ferien des Geistes.
Reinbert Tabbert, Literaturen 05/2004 S. 46ff
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