Leute
Dr. Henry Selwyn
(1892 - 1970 ?)

Die Ausgewanderten S. 5ff.



Nabokov alias Selwyn

Da ist der Arzt Dr. Henry Selwyn, den W. G. Sebald kennenlernt, als er in der Grafschaft Norfolk (Sebald verbrachte fast sein gesamtes Berufsleben in Norwich, wo er an der Universität Literaturwissenschaft lehrte) eine Wohnung sucht für sich und seine Frau. Selwyn ist ein älterer Herr von höchst verbindlichen Umgangsformen, er lebt in einem bilderbuchartigen Herrenhaus, dessen Park und Garten er pflegt. Trotzdem liegt über allem ein undurchdringlicher Nebelschleier der Schwermut. Als 7-jähriger jüdischer Junge ist Selwyn aus Litauen ausgewandert und nach London gekommen. Selwyns Manieren und seine Gärntnerkunst wirken wie Versuche, den Zentrifugalkräften des Lebens zu widerstehen und Haltung zu bewahren. Doch am Ende greift er zu seinem Jagdgewehr, um seinem Leben ein Ende zu bereiten. Immer suchen Sebalds Figuren nach Form, aber es ist, als grabe die Schwermut ihnen jene Kraft ab, die die Entropie zu stoppen vermöchte. Die einzige Form, die als ein kontrafaktisches Trotzdem nicht zerbricht, ist die des Sebaldschen Erzählens.

(Ijoma Mangold, DIE ZEIT Nº 34/2012)

... erzählte er mir, er sei im Alter von sieben Jahren mit seiner Familie aus einem litauischen Dorf in der Nähe von Grodno ausgewandert. Im Spätherbst des Jahres 1899 sei es gewesen, als sie, die beiden Eltern, seine Schwestern Gita und Raja und sein Onkel Shani Feldhendler auf dem Wägelchen des Kutschers Aaron Wald nach Grodno gefahren seien. ... Nach einer Woche etwa, viel früher, als wir gerechnet hatten, erreichten wir unser Ziel. ... Als wir an Land gingen, stand für uns immer noch außer jedem Zweifel, daß wir den Boden der Neuen Welt, der gelobten Stadt New York, unter unseren Füßen hatten. In Wirklichkeit aber waren wir, wie sich nach einiger Zeit - das Schiff hatte längst wieder abgelegt - zu unserem Leidwesen herausstellte, in London gelandet. ... Ich besuchte eine Grundschule in Whitechapel und lernte dort wie im Traum, sozusagen über Nacht, das Englische, weil ich meiner wunderschönen jungen Lehrerin, Lisa Owen, vor Liebe jedes Wort von den Lippen ablas und im Andenken an sie auf dem Heimweg fortwährend alles wiederholte, was ich den Tag über von ihr gehört hatte.

Er habe, so begann er, im Sommer 1913 im Alter von einundzwanzig Jahren sein medizinisches Grundstudium in Cambridge abgeschlossen und sei danach unverzüglich nach Bern gefahren, mit der Absicht, sich dort weiter auszubilden. Daraus sei allerdings nicht das geworden, was er sich vorgesetzt hatte, sondern er sei die meiste Zeit im Oberland gewesen und dort mehr und mehr der Bergsteigerei verfallen. Insbesondere habe er sich wochenweise in Meiringen und Oberaar aufgehalten, wo er einen damals fünfundsechzigjährigen Bergführer namens Johannes Naegeli kennengelernt habe, dem er von Anfang an sehr zugetan gewesen sei.

Naegeli ist nämlich kurz nach der Kriegsmobilmachung auf dem Weg von der Oberaarhütte nach Oberaar verunglückt und seither verschollen. Es wird angenommen, daß er in eine Spalte des Aaregletschers gestürzt ist. Die Nachricht davon erhielt ich in einem der ersten Briefe, die mich als Kasernierten und Uniformierten erreichten, und verursachte in mir eine tiefe Depression, die fast zu meiner Dienstentlassung geführt hätte und während der mir war, als sei ich begraben unter Schnee und Eis.

Es kam das Jahr in der Schweiz, der Krieg, das erste Dienstjahr in Indien und die Heirat mit Hedi, der ich meine Herkunft noch sehr lange verschwieg. In den zwanziger und dreißiger Jahren lebten wir in dem großen Stil, von welchem Sie die Überreste gesehen haben. ... Als ich 1960 meine Praxis und meine Patienten aufgeben mußte, löste ich meine letzten Kontakte mit der sogenannten wirklichen Welt.

Sebald

Norwich war ein so vergessener Ort, dass die UEA in ihren Anfangsjahren regelmäßig mit der linksgerichteten University of Essex in Colchester, fünfzig Meilen südlich, am südlichen Rand von East Anglia, verwechselt wurde, was sie folglich in den Medien bedauerte. Und das ländliche East Anglia war noch immer eine altmodische Umgebung, die Max ansprach, und wenn man ein Auto besaß, dann konnte man am südlichen Rand von Norwich malerische Häuser, Cottages, Pfarrhäuser und sogar Villen sehr günstig erwerben, ohne dass die Vororte zersiedelt wurden. Es war also kein Zufall, dass Max sich zunächst in Wymondham (= Hingham) niederließ, ein abgelegenes, malerisches Dorf etwa elf Kilometer südwestlich des Stadtzentrums von Norwich, dominiert von einer schönen Abteikirche aus dem 12. Jahrhundert. Dort lebte er bis 1975, um nach Deutschland zurückzukehren und sich am Goethe-Institut in München zum Deutschlehrer ausbilden zu lassen: Ursprünglich für ein Kalenderjahr geplant, war er nach sechs Monaten unzufrieden und im Juni 1976 kehrte er an die UEA zurück , woraufhin er und seine Frau The Old Rectory in Poringland, einem Dorf etwa fünf Meilen südlich von Norwich, erwarben und restaurierten.

Saturn's Moons S. 92



Hörbuch
siehe auch