Kunst



Pieter Brueghel: Der Sturz des Ikarus

(Nach der Natur S. 90f)

Das schattige Ufer taucht auf
eines Sees, die Fläche des Wassers,
die Bänder der Felsen und
in der obersten Höhe das bunte
Gefieder des Drachens, Ikarus,
segelnd inmitten der Ströme
des Lichts. Unter ihm teilt sich
die Zeit, der Rheingletscher
in zwei mächtige Arme,
ragen die Churfirsten auf,
erhebt sich das Säntisgebirge,
Kreideinseln, hell
in der Eisflut glühend.
Neigt sich sein Aug denn,
stürzt er jetzt ab,
hinein in den See,
wird sich, wie auf Brueghels
Gemälde, das schöne Schiff,
der pflügende Landmann, die ganze
Natur irgendwie abwenden
vom Unglück des Sohns?




Mich führen die Fragen
über die Grenze. Am Arlberg
ziehet ein Wetter herauf.
Ich seh hinab in das Tal,
und mir schwindelt die Seele.
Wieder ein Sommer vergangen.
Und wie Efeu hänget, schrieb Hölderlin,
astlos der Regen herunter. Moosrosen
wachsen auf den Alpen. Avignon waldig.
Über den Gotthard tastet das Roß.


William Carlos Wiliams liefert in einem Gedicht eine knappe Bildbeschreibung:

According to Brueghel
when Icarus fell
it was spring

a farmer was ploughing
his field
the whole pageantry

of the year was
awake tingling
near

the edge of the sea
concerned
with itself

sweating in the sun
that melted
the wings’ wax

unsignificantly
off the coast
there was

a splash quite unnoticed
this was
Icarus drowning










Die Gestalt des Ikarus ist in der europäischen Kultur immer wieder Anreger und Gegenstand künstlerischer, wissenschaftlicher und technischer Schöpfungen.
Ikarus (lateinisch Icarus, griechisch Íkaros) ist in der griechischen Mythologie der Sohn des Dädalus, die König Minos beide als Strafe für den Ariadnefaden im Labyrinth des Minotauros auf Kreta gefangen hält. Da Minos die Seefahrt kontrolliert, erfindet Daedalus Flügel für sich und seinen Sohn, indem er Federn mit Wachs an ein Gestänge heftet. Vor dem Start schärft er Ikarus ein, nicht zu hoch und nicht zu tief zu fliegen, da sonst die Feuchte des Meeres beziehungsweise die Hitze der Sonne zum Absturz führen. Nachdem sie Samos und Delos zur Linken und Lebinthos zur Rechten passiert haben, wird Ikarus übermütig und steigt so hoch hinauf, dass die Sonne das Wachs seiner Flügel schmilzt, die Federn lösen sich, er stürzt ins Meer. Daedalus, verzweifelt, kommt sicher in Sizilien an, benennt das Land zur Erinnerung an sein Kind Ikaria. Er errichtet einen Tempel für Apollon und hängt seine Flügel als Opfer für den Gott hinein. Deutung des Mythos: Absturz und Tod des Übermütigen sind die Strafe der Götter für seinen unverschämten Griff nach der Sonne.















Anders als meist sonst in der bildenden Kunst, stellt Brueghel nicht den Moment dar, da Ikarus im Begriff ist, der Sonne zu nahe zu kommen, sondern auf den ersten Blick öffnet sich eine bis zum Horizont reichende Landschaft mit Sonnenuntergang. Ikarus sucht man am Himmel vergebens. Doch: Rechts stürzt er ins Wasser, mit seinen nackten, strampelnden Beinen eine eher unglückliche Figur. Über ihm ein paar fliegende Federn...
Dädalus spart Bruegel ganz aus, weit mehr Bedeutung haben in dem Gemälde andere Personen. Er hält sich eng an Ovid: Diese (Dädalus und Ikarus) sah jemand, während er mit zitternder Angelrute Fische fing, oder ein Hirte, der sich auf seinen Stab oder ein Bauer, der sich auf seinen Pflug stützte, und staunte und glaubte, dass solche, die ihren Weg durch die Lüfte nehmen könnten, Götter seien.
Der Angler sitzt unten am Wasser, der Hirte ist in der Mitte platziert, der Bauer bestellt seinen Acker, allen gemeinsam aber ist, dass sie dem Sturz des Ikarus keinerlei Aufmerksamkeit zollen. Der Hirte schaut zwar zum Himmel, aber an der Stelle, wo er hinaufblickt, ist Ikarus nicht abgestürzt. Die christliche Allegorie wird deutlich: Der Hirte (lat.: pastor) blickt auf zu Gott, Ikarus - der mit seinem Flug zum Himmel Gott versucht hat - stirbt in lächerlicher Pose. Und eine weitere Figur aus Dädalus' Vorgeschichte ist gegenwärtig: Vor seiner Verbannung nach Kreta hat er seinen begabten Schüler Talos umgebracht. Athene aber rettete ihn und verwandelte Talos in einen Vogel, der dicht am Boden fliegt und seine Eier in Hecken legt, denn er fürchtet die Höhe, des einstigen Sturzes gedenkend. Der Vogel ist bei Bruegel ein Rebhuhn, es sitzt beim Angler auf einem Ast.

Landschaft und das typische Segelschiff zeigen: Bruegel hat den Mythos ganz in seine Zeit versetzt. Warum aber lässt er die Sonne untergehen und Ikarus an fast entgegengesetzter Stelle abstürzen? Zitat seines Freundes Ortelius: Unser Bruegel malt viele Dinge, die man gar nicht malen kann. (…) In seinen Werken ist oft mehr an Gedanken als an Malerei. Brueghel hat Ikarus sechs Stunden durch das Universum stürzen lassen.

Das Bild entsteht 1558 Öl auf Leinwand in der Originalgröße von 73,5 mal 112cm und hängt in den Musées Royaux des Beaux-Arts in Brüssel.




About suffering they were never wrong,
The Old Masters; how well, they understood
Its human position; how it takes place
While someone else is eating or opening a window or just walking dully along;

How, when the aged are reverently, passionately waiting
For the miraculous birth, there always must be
Children who did not specially want it to happen, skating
On a pond at the edge of the wood:
They never forgot
That even the dreadful martyrdom must run its course
Anyhow in a corner, some untidy spot
Where the dogs go on with their doggy life and the torturer’s horse
Scratches its innocent behind on a tree.

In Breughel’s Icarus, for instance: how everything turns away
Quite leisurely from the disaster; the ploughman may
Have heard the splash, the forsaken cry,
But for him it was not an important failure; the sun shone
As it had to on the white legs disappearing into the green
Water; and the expensive delicate ship that must have seen
Something amazing, a boy falling out of the sky,
had somewhere to get to and sailed calmly on.

(W. H. Auden)