Christians Mini-Kosmos




Sebald



Altdorfers Alexanderschlacht
(W.G.Sebald Nach der Natur S. 96ff)

Herr, mir hat es geträumt,
die Alexanderschlacht anschaun
sei ich eigens nach München
geflogen ...
... Ein zweimal geschliffenes
Schwert trennte von der Erde
den Himmel, es floß ein Leuchten
herein in den Raum, und das Ziel
meines Ausflugs, die Vision
Altdorfers, tat sich auf.



Weit über hunderttausend,
verkünden die Inschriften,
zählen die Toten, über denen
die Schlacht wogt zur Errettung
des Abendlands in den Strahlen
einer versinkenden Sonne.
Eben wendet sich das Geschick.





Im Zentrum des grandiosen Getümmels
der Banner und Fahnen, Lanzen und
Spieße und Stangen, der kürassierten
Leiber der Menschen und Tiere,
Alexander, der Held der westlichen
Welt auf seinem Schimmel,
und vor ihm auf der Flucht,
in die Richtung der Sichel des Mondes,
Darius, den Ausdruck des hellen
Entsetzens im Antlitz. Als glücklich
beschrieb der kluge Kaplan,
der einen Öldruck des Schlachtbilds
neben der Tafel aufgehängt hatte,
diesen Ausgang der Dinge. Er sei,
sagte er, eine Demonstration
der notwendigen Vernichtung aller
aus dem Osten heraufkommenden Horden
und also ein Beitrag zur Geschichte des Heils...

Seither hab ich bei einem andern
Lehrer gelesen, wir hätten den Tod vor uns,
so etwa wie im Schulzimmer an der Wand
ein Bild der Alexanderschlacht.


Ich weiß jetzt, wie mit dem Aug
eines Kranichs überblickt man
sein weites Gebiet, wahrhaftig
ein asiatisches Schauspiel,
und lernt langsam an der Winzigkeit
der Figuren und der unbegreiflichen
Schönheit der Natur, die sie überwölbt,
jene Seite des Lebens zu sehen,
die man vorher nicht sah. Wir blicken
über die Schlacht hin und sehen,
von Norden nach Süden schauend,
sehn wir ein Lager mit weißen
persischen Zelten im Abendglanz liegen



und eine Stadt an der Küste.



Draußen mit geschwellten Segeln
fahren die Schiffe, und die Schatten



rühren bereits an Zypern, und jenseits
dehnt das Festland Ägyptens sich aus.



Das Nildelta ist zu erkennen,
die Halbinsel Sinai, das rote Meer



und weiter noch in der Ferne
das im schwindenden Licht sich
auftürmende Schnee- und Eisgebirge
des fremden, unerforschten und
afrikanischen Kontinents.




Die Tafelinschrift (lat.) lautet:
ALEXANDER M DARIVM ULT SVPERAT
CAESIS IN ACIE PERSAR PEDIT C M EQUIT
VERO X M INTERFECTIS MATRE QVOQVE
CONIVGE; LIBERIS DARII REG CVM HAVD
AMPLIVS EQVITIB FVGA DILAPSI CAPTIS
"Alexander der Große besiegt den letzten Darius;
nachdem in den Reihen der Perser hunderttausend Mann zu Fuß und
über zehntausend persische Reiter erschlagen
und Mutter, Gemahlin und Kinder des Königs Darius mit etwa 1000 Mann
in Auflösung fliehend in Gefangenschaft gerieten"

1529 malt Altdorfer eines der wichtigsten Werke deutscher Malerei im
Auftrag vom Wittelsbacher Herzog Wilhelm IV.
Öltempera auf Lindentafel, 158 x 120 cm
Griechen in weiß-blau, Perser in Rot, teilweise mit Turbanen.
1529 stehen die Türken vor Wien, Altdorfer beschwört den Sieg
des Abendlandes über das Morgenland

Die Schlacht bei Issos im Jahr 333 v. Chr. ist das erste direkte Aufeinandertreffen der
Kriegsherren Alexander des Großen auf makedonischer und Dareios III. auf persischer Seite.
Die Griechen/Makedonen wollen sich - so das offizielle Kriegsziel - mit ihrem Feldzug
für die Zerstörungen rächen, die die Perser fast 150 Jahre zuvor in Griechenland
(besonders in Athen) verursacht haben. Alexander strebt zudem nach Ruhm und Eroberungen.


Mir hat es geträumt, Herr, ich sei ...
Die Schilderung des Fluges von seinem Haus in Poringland nach München, um dort in der Alten Pinakothek die Alexanderschlacht anzuschauen, vermittelt uns den Eindruck, als spräche Sebald von einer Position jenseits des Lebens oder auf der Schwelle zwischen Leben und Tod zu uns.
Auch die Beschreibung des Fluges und Schlachtbildes hält er außerirdisch und jenseitig, wie die Schlusspassagen der vorausgehenden, Grünewald und Steller gewidmeten Gedichtteile, die jeweils die Vision enthalten, in der das irdische Leben des Künstlers und Naturalisten in einen jenseitigen Bereich schreitet.

„Mir hat es geträumt, Herr“ - der dritte Teil des Elementargedichts hebt als Gebet an, der Betende berichtet seine Traumvision aus einer anderen Welt mit parataktischen Parallelkonstruktionen, rhythmischen Wortwiederholungen und Kadenzen, die an die Psalmen der Bibel erinnern.
Trotz der biblischen Ankläge, trotz der Tatsache, dass der Betende in dem Moment, als er von der Schilderung seines Fluges zur Beschreibung des Altdorefergemäldes übergeht, ein Bild der Offenbarung des Johannes entlehnt (das zweifach geschliffene Schwert), blendet Sebald die jüdisch-christliche Tradition zugunsten einer radikal anderern Jenseitsvision aus:
Das Ich des Gedichts, das sich im Auffinden, Konstruieren und Evaluieren von Bildern aller Art auszeichnet, eine Figur, die in und über Bilder mit längst verstorbenen Künstlern kommunizieren und so in die Vergangenheit wie in die Zukunft reisen kann, entpuppt sich in dieser Schlusspassage als Schamane, erinnert an Mircea Eliade vor allem in den Religionen und Riten Nordasiens und Nordamerikas als Seelenführer fungiert und mit einer vielfältigen Flug- und Vogelbildlichkeit assoziiert ist.

Die Traumvision lässt sich in vier Segmente unterteilen:

  1. nächtlicher Flug von East Anglia nach München;
  2. Beschreibung der Schlachtszene Altdorfers;
  3. traditionelle, ideologische Deutung des Schlachtenausgangs als „Sieg des Westens über die asiatischen Horden“, ergänzt um die Anekdote, die den Einsatz von Kunstwerken zur Illustration ideologischer Programme beleuchtet;
  4. erneuter Flug, die Gesamtkomposition des Bildes würdigend, was ermöglicht, die ideologische Komponente der menschlichen Geschichte wechselnder Machtverhältnisse einer sie relativierenden, überwältigenden Naturschönheit von kosmischen Dimensionen gegenüberzustellen.

Der Betende, der über Sebalds Haus in East Anglia aufsteigt, mühelos hoch in den Lüften wie ein Rochen unter Wasser durch die hereinbrechende Nacht gleitet, den Kanal überquert und der unheimlich beleuchteten Industrielandschaft rheinaufwärts nach Süden folgt, formuliert das Flugerlebnis als eine Art Metamorphose in ein anderes, flugbegabtes Wesen. Der Flug erscheint paradox als die Verkörperlichung von Levitation, als körperliche Erfahrung der vom menschlichen Körper getrennten Seele. Der Blick zur Erde streift über eine verschmutzte Industrielandschaft, beschrieben als monströses, amorphes, im Sterben und Verrotten noch sich fortzeugendes Geschöpf.
Die Sinneswahrnehmungen verstärken den Eindruck einer ekstatischen, entkörperlichten Erfahrung, der zeitliche Bezugsrahmen scheint zu expandieren als auch zu kollabieren. Die Reise endet nicht mit der Ankunft des Reisenden in der Pinakothek, sondern indem er in einer Überempfindlichkeit, die ihm anzuzeigt, dass er „dem End schon so nah“ ist. Reiseziel und Ende der Zeit fallen ineins, woraufhin, Himmel und Erde von einem zweifach geschliffenen Schwert geteilt werden, der Raum hell erleuchtet wird und in großartiger Vogelperspektive der Blick Altdorfers sich auf die Schlachtenlandschaft öffnet.
Zunächst liest Sebald das Gemälde im Sinne der Inschrift und der Banner, anschließend relativiert er die Lektüre durch zwei Anekdoten.
Die erste aus der Schulzeit:
Als glücklich
Beschrieb der kluge Kaplan,
der einen Öldruck des Schlachtbilds
neben der Tafel aufgehängt hatte,
diesen Ausgang der Dinge. Er sei,
sagte er, eine Demonstration
der notwendigen Vernichtung aller
aus dem Osten heraufkommenden Horden
und also ein Beitrag zur Geschichte des Heils.

Die zweite aus der Kafka-Lektüre:
Seither hab ich bei einem andern
Lehrer gelesen, wir hätten den Tod vor uns,
so etwa wie im Schulzimmer an der Wand
ein Bild der Alexanderschlacht.
Die imperialistische Deutung wird in der ersten Anekdote vom rassistischen Religionslehrer aufgegriffen und als Einengung des Bildes kritisiert durch Hervorhebung der Tatsache, dass es sich bei dieser Art von Bildbetrachtung um eine Reduktion des Gemäldes auf eine Illustration handelt. Hier geht es nicht um das gewaltige Ölgemälde, sondern nur mehr um einen neben der Tafel aufgehängten Öldruck. Die andere Anekdote bedient sich der Alexanderschlacht wiederum als Illustration, doch diesmal werden der mediale Charakter der Reproduktion und die Beliebigkeit dieser Art von Bildbetrachtung hervorgehoben: Was für den Kaplan einen „Beitrag zur Geschichte des Heils“ illustriert, veranschaulicht für einen anderen Lehrer, nämlich den Schriftstellerkkollegen Kafka, die Konfrontation mit dem Tod.

Gegen diese Bildlektüren, die beide das Bild auf eine Illustration einer übergeordneten Wahrheit reduzieren, wird die Bildbetrachtung - und das Gesamtgedicht - zum Abschluss gebracht, zurückkommend auf die Vogelperspektive des Gemäldes Altdorfers:
Ich weiß jetzt, wie mit dem Aug
eines Kranichs überblickt man
sein weites Gebiet, wahrhaftig
ein asiatisches Schauspiel,
und lernt langsam an der Winzigkeit
der Figuren und der unbegreiflichen
Schönheit der Natur, die sie überwölbt,
jene Seite des Lebens zu sehen,
die man vorher nicht sah. Wir blicken
über die Schlacht hin und sehen,
von Norden nach Süden schauend,
sehn wir ein Lager mit weißen
persischen Zelten im Abendglanz liegen
und eine Stadt an der Küste.


Dieser zweite Blick erkennt, was Altdorfers Bild vor anderen Darstellungen von Alexanders Sieg über Darius auszeichnet:
Kann das Gemälde einerseits hinsichtlich der enormen Fülle kleinster Detaildarstellungen – die beiden Protagonisten verlieren sich beinahe im Meer ihrer Truppen – als eine wahre tour de force der Miniaturmalerei gesehen werden, beeindruckt andererseits der weit reichende Blick über diesen Teil der Erde. Altdorfer hatte eine schematische Landkarte der mediterranen Welt zum vorbild und in eine kosmische Landschaftsdarstellung transformiert: ein Blick, der sich bis zum Niltal und zum Roten Meer erstreckt und den Himmel zwischen Mond und untergehender Sonne einschließt. Auch wenn das ideologische Darstellungsanliegen, das Altdorfer mit dieser Perspektive verknüpfte, im Aufweis der globalen Bedeutung dieses Sieges gelegen haben mag, bewirkt diese exaltierte Vogelperspektive zugleich eine radikale Relativierung allen menschlichen Unternehmens; sogar heroische Leistungen verblassen ins Unbedeutende hinsichtlich der Größe und Schönheit der Natur.
Das Gedicht endet mit dem Ausblick, der als Alternative zur schreckenerregenden Apokalypse als Vision einer die Dunkelheit verdrängenden Helligkeit inszeniert wird, aber nicht als Ankündigung dieser Hoffnung, sondern bewusste Fiktion:
Das Nildelta ist zu erkennen,
die Halbinsel Sinai, das rote Meer
und weiter noch in der Ferne
das im schwindenden Licht sich
auftürmende Schnee- und Eisgebirge
des fremden, unerforschten und
afrikanischen Kontinents.

In seinem erneuten Flug als Schamane, begleitet vom Kranich, wird der Reisende Vermittler zwischen radikal getrennten Welten. Er verweist nicht auf etwas anderes, sondern stellt Wunder und Hoffnung, das Staunen und den Flug in der erneuten Rückkehr zum Bild wieder als Original her.
Der Dichter produziert zuletzt ein Kunstwerk im Prozess des Erinnerns und Entdeckens nicht ideologisch vorprogrammierter Einsichten, anhand derer er Szenen des Grauens, der Zerstörung und der Grausamkeit wahrzunehmen vermag, ohne sie zu beschönigen, aber auch ohne sie als notwendig und unvermeidbar in eine deterministische Geschichtserzählung einzuordnen; er setzt sie vielmehr neben Szenen voll sinnlicher Schönheit.

nach Dorothea von Mücke